Fredeswinds Märchenschatztruhe

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Fredeswind
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Die Regentrude (Theodor Storm)

Beitrag von Fredeswind » Sonntag 7. Februar 2021, 19:37

„Das ist das Sprüchlein der Regentrude!“, rief Frau Stine; „und nun rasch noch einmal! Und du, Maren, merk wohl auf, damit es nicht wiederum verlorengeht!" Und nun sprachen Mutter und Sohn noch einmal zusammen und ohne Anstoß:

„Dunst ist die Welle,
Staub ist die Quelle!
Stumm sind die Wälder,
Feuermann tanzet über die Felder!

Nimm dich in acht!
Eh du erwacht,
Holt dich die Mutter
Heim in die Nacht!“


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„Nun hat alle Not ein Ende!“, rief Maren; „nun wecken wir die Regentrude; morgen sind alle Felder wieder grün, und übermorgen gibt's Hochzeit!“ Und mit fliegenden Worten und glänzenden Augen erzählte sie dem Andrees, welches Versprechen sie dem Vater abgewonnen habe. „Kind“, sagte die Witwe wieder, „weißt du denn auch den Weg zur Regentrude?“ „Nein, Mutter Stine; wisst Ihr denn auch den Weg nicht mehr?“ „Aber, Maren, es war ja die Urahne, die bei der Regentrude war; von dem Wege hat sie mir niemals was erzählt.“

25 Regentrude.JPG


„Nun, Andrees“, sagte Maren und fasste den Arm des jungen Bauern, der währenddes mit gerunzelter Stirn vor sich hin gestarrt hatte, „so sprich du! Du weißt ja sonst doch immer Rat!“ „Vielleicht weiß ich auch jetzt wieder einen“, entgegnete er bedächtig. „Ich muss heute Mittag den Schafen noch Wasser hinauftragen. Vielleicht, dass ich den Feuermann noch einmal hinter dem Dornbusch belauschen kann! Hat er das Sprüchlein verraten, wird er auch noch den Weg verraten; denn sein dicker Kopf scheint überzulaufen von diesen Dingen.“ Und bei diesem Entschluss blieb es. Soviel sie auch hin und wieder redeten, sie wussten keinen bessern aufzufinden.

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Die Regentrude (Theodor Storm)

Beitrag von Fredeswind » Dienstag 9. Februar 2021, 09:53

Bald darauf befand sich Andrees mit seiner Wassertracht droben auf dem Weideplatze. Als er in die Nähe des Riesenhügels kam, sah er den Kobold schon von weitem auf einem der Steine am Zwergenloch sitzen. Er strählte sich mit seinen fünf ausgespreizten Fingern den roten Bart; und jedesmal, wenn er die Hand herauszog, löste sich ein Häufchen feuriger Flocken ab und schwebte in dem grellen Sonnenschein über die Felder dahin. „Da bist du zu spät gekommen“, dachte Andrees, heute wirst du nichts erfahren“, und wollte seitwärts, als habe er gar nichts gesehen, nach der Stelle abbiegen, wo noch immer der umgestürzte Zuber lag.

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Aber er wurde angerufen. „Ich dachte, du hättst mit mir zu reden!“, hörte er die Quäkstimme des Kobolds hinter sich. Andrees kehrte sich um und trat ein paar Schritte zurück. „Was hätte ich mit Euch zu reden?“, erwiderte er; ich kenne Euch ja nicht.“ „Aber du möchtest den Weg zur Regentrude wissen?“ „Wer hat Euch denn das gesagt?“ „Mein kleiner Finger, und der ist klüger als mancher großer Kerl.“ Andrees nahm all seinen Mut zusammen und trat noch ein paar Schritte näher zu dem Unding an den Hügel hinauf. „Euer kleiner Finger mag schon klug sein“, sagte er, „aber den Weg zur Regentrude wird er doch nicht wissen, denn den wissen auch die allerklügsten Menschen nicht.“

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Der Kobold blähte sich wie eine Kröte und fuhr ein paarmal mit seiner Klaue durch den Feuerbart, dass Andrees vor der herausströmenden Glut einen Schritt zurücktaumelte. Plötzlich aber, den jungen Bauer mit dem Ausdrucke eines überlegenen Hohns aus seinen bösen kleinen Augen anstarrend, schnarrte er ihn an: „Du bist zu einfältig, Andrees; wenn ich dir auch sagte, dass die Regentrude hinter dem großen Walde wohnt, so würdest du doch nicht wissen, dass hinter dem Walde eine hohle Weide steht.“

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Beitrag von Fredeswind » Dienstag 9. Februar 2021, 10:11

„Hier gilt's, den Dummen spielen“, dachte Andrees; denn obschon er sonst ein ehrlicher Bursche war, so hatte er doch auch seine gute Portion Bauernschlauheit mit auf die Welt bekommen. „Da habt Ihr recht“, sagte er und riss den Mund auf, „das würde ich freilich nicht wissen!“ „Und“, fuhr der Kobold fort, „wenn ich dir auch sagte, dass hinter dem Wald die hohle Weide steht, so würdest du doch nicht wissen, dass in dem Baum eine Treppe zum Garten der Regenfrau hinabführt.“

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„Wie man sich doch verrechnen kann!“ rief Andrees. „Ich dachte, man könnte nur so geradeswegs hineinspazieren.“ „Und wenn du auch geradeswegs hineinspazieren könntest“, sagte der Kobold, „so würdest du immer noch nicht wissen, dass dir Regentrude nur von einer reinen Jungfrau geweckt werden kann.“ „Nun freilich“, meinte Andrees, „da hilft's mir nichts; da will ich mich nur gleich wieder auf den Heimweg machen.“ Ein arglistiges Lächeln verzog den breiten Mund des Kobolds. „Willst du nicht erst dein Wasser in den Zuber gießen?“, fragte er; „das schöne Viehzeug ist ja schier verschmachtet.“

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„Da habt Ihr zum vierten Male recht!“, erwiderte der Bursche und ging mit seinen Eimern um den Hügel herum. Als er aber das Wasser in den heißen Zuber goss, schlug es zischend empor und verprasselte in weißen Dampfwolken in der Luft. „Auch gut“, dachte er, „meine Schafe treibe ich mit mir heim, und morgen mit dem frühesten geleite ich Maren zu der Regentrude. Die soll sie schon erwecken!“

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Auf der andern Seite des Hügels aber war der Kobold von seinen Steinen aufgesprungen. Er warf seine rote Mütze in die Luft und kollerte sich mit wieherndem Gelächterden Berg hinab. Dann sprang er wieder auf seine dürren Spindelbeine, tanzte wie toll umher und schrie dabei mit seiner Quäkstimme einmal übers andre: „Der Kindskopf, der Bauernlümmel! dachte mich zu übertölpeln und weiß noch nicht, dass die Trude sich nur durch das rechte Sprüchlein wecken lässt. Und das Sprüchlein weiß keiner als Eckeneckepenn, und Eckeneckepenn, das bin ich!“– Der böse Kobold wusste nicht, dass er am Vormittag das Sprüchlein selbst verraten hatte.

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Beitrag von Fredeswind » Donnerstag 11. Februar 2021, 10:07

Auf die Sonnenblumen, die vor Marens Kammer im Garten standen, fiel eben der erste Morgenstrahl, als sie schon das Fenster aufstieß und ihren Kopf in die frische Luft hinausstreckte. Der Wiesenbauer, welcher nebenan im Alkoven des Wohnzimmers schlief, musste davon erwacht sein; denn sein Schnarchen, das noch eben durch alle Wände drang, hatte plötzlich aufgehört. „Was treibst du, Maren?“, rief er mit schläfriger Stimme. „Fehlt's dir denn wo?“

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Das Mädchen fuhr sich mit dem Finger an die Lippen; denn sie wusste wohl, dass der Vater, wenn er ihr Vorhaben erführe, sie nicht aus dem Hause lassen würde. Aber sie fasste sich schnell. „Ich habe nicht schlafen können, Vater“, rief sie zurück, „ich will mit den Leuten auf die Wiese; es ist so hübsch frisch heute morgen.“ „Hast das nicht nötig, Maren“, erwiderte der Bauer, „meine Tochter ist kein Dienstbot.“ Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Na, wenn's dir Pläsier macht! Aber sei zur rechten Zeit wieder heim, eh die große Hitze kommt. Und vergiss mein Warmbier nicht!“

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Damit warf er sich auf die andre Seite, dass die Bettstelle krachte, und gleich darauf hörte auch das Mädchen wieder das wohlbekannte abgemessene Schnarchen. Behutsam drückte sie ihre Kammertür auf. Als sie durch die Torfahrt ins Freie ging, hörte sie eben den Knecht die beiden Mägde wecken. „Es ist doch schnöd“, dachte sie, „dass du so hast lügen müssen, aber“ – und sie seufzte dabei ein wenig – „was tut man nicht um seinen Schatz!“

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Drüben in seinem Sonntagsstaat stand schon Andrees ihrer wartend. „Weißt du dein Sprüchlein noch?“, rief er ihr entgegen. „Ja, Andrees! Und weißt du noch den Weg?“ Er nickte nur. „So lass uns gehen!“ - Aber eben kam noch Mutter Stine aus dem Hause und steckte ihrem Sohne ein mit Met gefülltes Fläschchen in die Tasche. „Der ist noch von der Urahne“, sagte sie, „sie tat allezeit sehr geheim und kostbar damit, der wird euch gut tun in der Hitze!“ Dann gingen sie im Morgenschein die stille Dorfstraße hinab, und die Witwe stand noch lange und schaute nach der Richtung, wo die jungen kräftigen Gestalten verschwunden waren.

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Beitrag von Fredeswind » Freitag 12. Februar 2021, 11:40

Der Weg der beiden führte hinter der Dorfmark über eine weite Heide. Danach kamen sie in den großen Wald. Aber die Blätter des Waldes lagen meist verdorrt am Boden, so dass die Sonne überall hindurchblitzte; sie wurden fast geblendet von den wechselnden Lichtern. – Als sie eine geraume Zeit zwischen den hohen Stämmen der Eichen und Buchen fortgeschritten waren, fasste das Mädchen die Hand des jungen Mannes. „Was hast du, Maren?“, fragte er. „Ich hörte unsre Dorfuhr schlagen, Andrees.“ „Ja, mir war es auch so.“

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„Es muss sechs Uhr sein!“, sagte sie wieder. „Wer kocht denn dem Vater nur sein Warmbier? Die Mägde sind alle auf dem Felde.“ „Ich weiß nicht, Maren, aber das hilft nun doch weiter nicht!“ „Nein“, sagte sie, „das hilft nun weiter nicht. Aber weißt du denn auch noch unser Sprüchlein?“ „Freilich, Maren!

Dunst ist die Welle,
Staub ist die Quelle!“


39 Regentrude.JPG


Und als er einen Augenblick zögerte, sagte sie rasch:

„Stumm sind die Wälder,
Feuermann tanzet über die Felder!

Oh“, rief sie, „wie brannte die Sonne!“ „Ja“, sagte Andrees und rieb sich die Wange, „es hat auch mir ordentlich einen Stich gegeben.“


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Beitrag von Fredeswind » Samstag 13. Februar 2021, 09:38

Endlich kamen sie aus dem Walde, und dort, ein paar Schritte vor ihnen, stand auch schon der alte Weidenbaum. Der mächtige Stamm war ganz gehöhlt, und das Dunkel, das darin herrschte, schien tief in den Abgrund der Erde zu führen. Andrees stieg zuerst allein hinab, währen Maren sich auf die Höhlung des Baumes lehnte und ihm nachzublicken suchte. Aber bald sah sie nichts mehr von ihm, nur das Geräusch des Hinabsteigens schlug noch an ihr Ohr. Ihr begann angst zu werden, oben um sie her war es so einsam, und von unten hörte sie endlich auch keinen Laut mehr.

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Sie steckte den Kopf tief in die Höhlung und rief: „Andrees, Andrees!“ Aber es blieb alles still, und noch einmal rief sie: „Andrees!“ – Da nach einiger Zeit war es ihr, als höre sie es von unten wieder heraufkommen, und allmählich erkannte sie auch die Stimme des jungen Mannes, der ihren Namen rief, und fasste seine Hand, die er ihr entgegenstreckte. „Es führt eine Treppe hinab“, sagte er, „aber sie ist steil und ausgebröckelt, und wer weiß, wie tief nach unten zu der Abgrund ist!“

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Maren erschrak. „Fürchte dich nicht“, sagte er, „ich trage dich; ich habe einen sichern Fuß.“ Dann hob er das schlanke Mädchen auf seine breite Schulter; und als sie die Arme fest um seinen Hals gelegt hatte, stieg er behutsam mit ihr in die Tiefe. Dichte Finsternis umgab sie; aber Maren atmete doch auf, während sie so Stufe um Stufe wie in einem gewundenen Schneckengange hinabgetragen wurde; denn es war kühl hier im Innern der Erde.

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Kein Laut von oben drang zu ihnen herab; nur einmal hörten sie dumpf aus der Ferne die unterirdischen Wasser brausen, die vergeblich zum Lichte emporarbeiteten. „Was war das?“, flüsterte das Mädchen. „Ich weiß nicht, Maren.“ „Aber hat's denn noch kein Ende?“ „Es scheint fast nicht.“ „Wenn dich der Kobold nur nicht betrogen hat!“ „Ich denke nicht, Maren.“ So stiegen sie tiefer und tiefer. Endlich spürten sie wieder den Schimmer des Sonnenlichts unter sich, das mit jedem Tritt leuchtender wurde; zugleich aber drang auch eine erstickende Hitze zu ihnen herauf.


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Beitrag von Fredeswind » Montag 15. Februar 2021, 09:57

Als sie von der untersten Stufe ins Freie traten, sahen sie eine gänzlich unbekannte Gegend vor sich. Maren sah befremdet umher. „Die Sonne scheint aber doch dieselbe zu sein!“, sagte sie endlich. „Kälter ist sie wenigstens nicht.“, meinte Andrees, indem er das Mädchen zur Erde hob. Von dem Platze, wo sie sich befanden, auf einem breiten Steindamm, lief eine Allee von alten Weiden in die Ferne hinaus. Sie bedachten sich nicht lange, sondern gingen, als sei ihnen der Weg gewiesen, zwischen den Reihen der Bäume entlang. Wenn sie nach der einen oder andern Seite blickten, so sahen sie in ein ödes, unabsehbares Tiefland, das so von aller Art von Rinnen und Vertiefungen zerrissen war, als bestehe es nur aus einem endlosen Gewirre verlassener See- und Strombetten. Dies schien auch dadurch bestätigt zu werden, dass ein beklemmender Dunst, wie von vertrocknetem Schilf, die Luft erfüllte.

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Dabei lagerte zwischen den Schatten der einzeln stehenden Bäume eine solche Glut, dass es den beiden Wanderern war, als sähen sie kleine weiße Flammen über den staubigen Weg dahinfliegen. Andrees musste an die Flocken aus dem Feuerbarte des Kobolds denken. Einmal war es ihm sogar, als sähe er zwei dunkle Augenringe in dem grellen Sonnenschein; dann wieder glaubte er deutlich neben sich das tolle Springen der kleinen Spindelbeine zu hören. Bald war es links, bald rechts an seiner Seite. Wenn er sich aber wandte, vermochte er nichts zu sehen; nur die glutheiße Luft zitterte flirrend und blendend vor seinen Augen. „Ja, dachte er, indem er des Mädchens Hand erfasste und beide mühsam vorwärts schritten, sauer machst du's uns, aber recht behältst du heute nicht!“

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Weiter und weiter gingen sie, der eine nur auf das immer schwerere Atmen des andern hörend. Der einförmige Weg schien kein Ende zu nehmen; neben ihnen unaufhörlich die grauen, halb entblätterten Weiden, seitwärts hüben und drüben unter ihnen die unheimlich dunstende Niederung. Plötzlich blieb Maren stehen und lehnte sich mit geschlossenen Augen an den Stamm einer Weide. „Ich kann nicht weiter“, murmelte sie, „die Luft ist lauter Feuer.“ Da gedachte Andrees des Metfläschchens, das sie bis dahin unberührt gelassen hatten.

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– Als er den Stöpsel abgezogen, verbreitete sich ein Duft, als seien die Tausende von Blumen noch einmal zur Blüte auferstanden, aus deren Kelchen vor vielleicht mehr als hundert Jahren die Bienen den Honig zu diesem Tranke zusammengetragen hatten. Kaum hatten die Lippen des Mädchens den Rand der Flasche berührt, so schlug sie schon die Augen auf. „Oh!“, rief sie, „auf welcher schönen Wiese sind wir denn?“ „Auf keiner Wiese, Maren; aber trink nur, es wird dich stärken!“ Als sie getrunken hatte, richtete sie sich auf und schaute mit hellen Augen um sich her. „Trink auch einmal, Andrees“, sagte sie; „ein Frauenzimmer ist doch nur ein elendiglich Geschöpf!“

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„Aber das ist ein echter Tropfen!“, rief Andrees, nachdem er auch gekostet hatte. „Mag der Himmel wissen, woraus die Uhrahne den gebraut hat!“ Dann gingen sie gestärkt und lustig plaudernd weiter. Nach einer Weile aber blieb das Mädchen wieder stehen. „Was hast du, Maren?, fragte Andrees. „Oh, nichts, ich dachte nur -“ „Was denn, Maren?“ „Siehst du, Andrees! Mein Vater hat noch sein halbes Heu draußen auf den Wiesen; und ich gehe da aus und will Regen machen!“ „Dein Vater ist ein reicher Mann, Maren; aber wir andern haben unser Fetzchen Heu schon längst in der Scheuer und unsre Frucht noch alle auf den dürren Halmen.“ „Ja, ja, Andrees, du hast wohl recht; man muss auch an die andern denken!“ Im stillen bei sich selber aber setzte sie später hinzu: „Maren, Maren, mach dir keine Flausen vor; du tust ja doch alles nur von wegen deinem Schatz!“

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Beitrag von Fredeswind » Dienstag 16. Februar 2021, 16:18

So waren sie wieder eine Zeitlang fortgegangen, als das Mädchen plötzlich rief: „Was ist denn das? Wo sind wir denn? Das ist ja ein großer, ungeheurer Garten!“ Und wirklich waren sie, ohne zu wissen wie, aus der einförmigen Weidenallee in einen großen Park gelangt. Aus der weiten, jetzt freilich versengten Rasenfläche erhoben sich überall Gruppen hoher prachtvoller Bäume. Zwar war ihr Laub zum Teil abgefallen oder hing dürr und schlaff an den Zweigen, aber der kühne Bau ihrer Äste strebte noch in den Himmel, und die mächtigen Wurzeln griffen noch weit über die Erde hinaus. Eine Fülle von Blumen, wie die beiden sie nie zuvor gesehen, bedeckte hie und da den Boden; aber alle diese Blumen waren welk und düftelos und schienen mitten in der höchsten Blüte von der tödlichen Glut getroffen zu sein.

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„Wir sind am rechten Orte, denk ich!“, sagte Andrees. Maren nickte. „Du musst nun hier zurückbleiben, bis ich wiederkomme.“ „Freilich“, erwiderte er, indem er sich in dem Schatten einer großen Eiche ausstreckte. „Das übrige ist nun deine Sach! Halt nur das Sprüchlein fest und verred dich nicht dabei!“ - So ging sie denn allein über den weiten Rasen und unter den himmelhohen Bäumen dahin, und bald sah der Zurückbleibende nichts mehr von ihr. Sie aber schritt weiter und weiter durch die Einsamkeit.

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Beitrag von Fredeswind » Mittwoch 17. Februar 2021, 13:09

Bald hörten die Baumgruppen auf, und der Boden senkte sich. Sie erkannte wohl, dass sie in dem ausgetrockneten Bette eines Gewässers ging; weißer Sand und Kiesel bedeckten den Boden, dazwischen lagen tote Fische und blinkten mit ihren Silberschuppen in der Sonne. In der Mitte des Beckens sah sie einen grauen fremdartigen Vogel stehen. Er schien ihr einem Reiher ähnlich zu sein, doch war er von solcher Größe, dass sein Kopf, wenn er ihn aufrichtete, über den eines Menschen hinwegragen musste; jetzt hatte er den langen Hals zwischen den Flügeln zurückgelegt und schien zu schlafen.

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Maren fürchtete sich. Außer dem regungslosen unheimlichen Vogel war kein lebendes Wesen sichtbar, nicht einmal das Schwirren einer Fliege unterbrach hier die Stille; wie ein Entsetzen lag das Schweigen über diesem Orte. Einen Augenblick trieb sie die Angst, nach ihrem Geliebten zu rufen, aber sie wagte es wiederum nicht; denn den Laut ihrer eignen Stimme in dieser Öde zu hören, dünkte sie noch schauerlicher als alles andre.

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So richtete sie denn ihre Augen fest in die Ferne, wo sich wieder dichte Baumgruppen über den Boden zu erheben schienen, und schritt weiter, ohne rechts oder links zu sehen. Der große Vogel rührte sich nicht, als sie mit leisem Tritt an ihm vorüberging, nur für einen Augenblick blitzte es schwarz unter der weißen Augenhaut hervor. – Sie atmete auf. –

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Nachdem sie noch eine weite Strecke hingeschritten, verengte sich das Seebett zu der Rinne eines mäßigen Baches, der unter einer breiten Lindengruppe durchführte. Das Geäst dieser mächtigen Bäume war so dicht, dass ungeachtet des mangelhaften Laubes kein Sonnenstrahl hindurchdrang. Maren ging in dieser Rinne weiter; die plötzliche Kühle um sie her, das hohe dunkle Gewölk der Wipfel über ihr; es schien ihr fast, als gehe sie durch eine Kirche. Plötzlich aber wurden ihre Augen von einem blendenden Licht getroffen.

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Re: Fredeswinds Märchenschatztruhe

Beitrag von Der Archivar » Mittwoch 17. Februar 2021, 22:36

Wunderschön umgesetzt! :respekt
Ich freue mich schon auf den Schluss!
Liebe Grüße :kavalier Michael
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Re: Fredeswinds Märchenschatztruhe

Beitrag von Fredeswind » Donnerstag 18. Februar 2021, 11:20

Der Archivar hat geschrieben:
Mittwoch 17. Februar 2021, 22:36
Wunderschön umgesetzt! :respekt
Ich freue mich schon auf den Schluss!
Liebe Grüße :kavalier Michael
:dank :dank1 :oops :oops

Ist auch ein ganz schön harter Brocken 'Die Regentrude' , umso mehr freut mich dein Lob. :knicks
Glücklicherweise hat Theodor Storm alles wunderbar beschrieben, so kann ich mich auf das Wesentliche konzentrieren, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg und den Rest nennt man dann künstlerische Freiheit. :grinsen

Nana, so ungeduldig, so schnell ist das Märchen nicht zu Ende. :wink

Da musst du noch eine Weile dran bleiben. Werden, wenn meine Absatzeinteilung so bleibt, zum Schluss 99 Bilder sein. :pfeif

LG von der Märchenfee Fredeswind :fee

Später gibt es wieder ein paar neue Bilder, muss aber erst in die Küche, sonst verhungern meine drei Männer. :kicher :mussweg
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Beitrag von Fredeswind » Donnerstag 18. Februar 2021, 13:20

Die Bäume hörten auf, und vor ihr erhob sich ein graues Gestein, auf das die grellste Sonne niederbrannte. Maren selbst stand in einem leeren sandigen Becken, in welches sonst ein Wasserfall über die Felsen hinabgestürzt sein mochte, der dann unterhalb durch die Rinne seinen Abfluss in den jetzt verdunsteten See gehabt hatte. Sie suchte mit den Augen, wo wohl der Weg zwischen den Klippen hinaufführte. Plötzlich aber schrak sie zusammen.

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Denn das dort auf der halben Höhe des Absturzes konnte nicht zum Gestein gehören; wenn es auch ebenso grau war und starr wie dieses in der regungslosen Luft lag, so erkannte sie doch bald, dass es ein Gewand sei, welches in Falten eine ruhende Gestalt bedeckte. – Mit verhaltenem Atem stieg sie näher. Da sah sie es deutlich; es war eine schöne mächtige Frauengestalt. Der Kopf lag tief aufs Gestein zurückgesunken; die blonden Haare, die bis zur Hüfte hinabflossen, waren voll Staub und dürren Laubes. Maren betrachtete sie aufmerksam. „Sie muss sehr schön gewesen sein", dachte sie, „ehe diese Wangen so schlaff und diese Augen so eingesunken waren. Ach, und wie bleich ihre Lippen sind! Ob es denn wohl die Regentrude sein mag?

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– Aber die da schläft nicht; das ist eine Tote! Oh, es ist entsetzlich einsam hier!“ Das kräftige Mädchen hatte sich indessen bald gefasst. Sie trat ganz dicht herzu, und niederkniend und zu ihr hinabgebeugt, legte sie ihre frischen Lippen an das marmorblasse Ohr der Ruhenden. Dann, all ihren Mut zusammennehmend, sprach sie laut und deutlich:

„Dunst ist die Welle,
Staub ist die Quelle!
Stumm sind die Wälder,
Feuermann tanzet über die Felder!“

Da rang sich ein tiefer klagender Laut aus dem bleichen Munde hervor; doch das Mädchen sprach immer stärker und eindringlicher:

„Nimm dich in acht!
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Beitrag von Fredeswind » Donnerstag 18. Februar 2021, 15:45

Da rauschte es sanft durch die Wipfel der Bäume, und in der Ferne donnerte es leise wie von einem Gewitter. Zugleich aber und, wie es schien, von jenseits des Gesteins kommend, durchschnitt ein greller Ton die Luft, wie der Wutschrei eines bösen Tieres. Als Maren emporsah, stand die Gestalt der Trude hoch aufgerichtet vor ihr. „Was willst du?“, fragte sie. „Ach, Frau Trude“, antwortete das Mädchen, „Ihr habt so grausam lang geschlafen, dass alles Laub und alle Kreatur verschmachten will!“ Die Trude sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, als mühe sie sich, aus schweren Träumen zu kommen.

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Endlich fragte sie mit tonloser Stimme: „Stürzt denn der Quell nicht mehr?“ „Nein, Frau Trude!“, erwiderte Maren. „Kreist denn mein Vogel nicht mehr über dem See?“ „Er steht in der heißen Sonne und schläft.“ „Weh!“, wimmerte die Regenfrau. „So ist es hohe Zeit. Steh auf und folge mir, aber vergiss nicht den Krug, der dort zu deinen Füßen liegt!“ Maren tat, wie ihr geheißen, und beide stiegen nun an der Seite des Gesteins hinauf.

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– Noch mächtigere Baumgruppen, noch wunderbarere Blumen waren hier der Erde entsprossen, aber auch hier war alles welk und düftelos. – Sie gingen an der Rinne des Baches entlang, der hinter ihnen seinen Abfall vom Gestein gehabt hatte. Langsam und schwankend schritt die Trude dem Mädchen voran, nur dann und wann die Augen traurig umherwendend. Dennoch meinte Maren, es bleibe ein grüner Schimmer auf dem Rasen, den ihr Fuß betreten, und wenn die grauen Gewänder über das dürre Gras schleppten, da rauschte es so eigen, dass sie immer darauf hinhören musste.

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„Regnet es denn schon, Frau Trude?“, fragte sie. „Ach nein, Kind, erst musst du den Brunnen aufschließen!“ „Den Brunnen? Wo ist denn der?“ Sie waren eben aus einer Gruppe von Bäumen herausgetreten. „Dort!“, sagte die Trude, und einige tausend Schritte vor ihnen sah Maren einen ungeheuren Bau emporsteigen. Er schien von grauem Gestein zackig und unregelmäßig aufgetürmt; bis in den Himmel, meinte Maren, denn nach oben hinauf war alles wie in Duft und Sonnenglanz zerflossen. Am Boden aber wurde die in riesenhaften Erkern vorspringende Front überall von hohen spitzbogigen Tor- und Fensterhöhlen durchbrochen, ohne dass jedoch von Fenstern oder Torflügeln selbst etwas zu sehen gewesen wäre.

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Beitrag von Fredeswind » Freitag 19. Februar 2021, 15:24

Eine Weile schritten sie gerade darauf zu, bis sie durch den Uferabsturz eines Stromes aufgehalten wurden, der den Bau rings zu umgeben schien. Auch hier war jedoch das Wasser bis auf einen schmalen Faden, der noch in der Mitte floss, verdunstet; ein Nachen lag zerborsten auf der trockenen Schlammdecke des Strombettes. „Schreite hindurch!“, sagte die Trude. „Über dich hat er keine Gewalt. Aber vergiss nicht, von dem Wasser zu schöpfen; du wirst es bald gebrauchen!“

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Als Maren, dem Befehl gehorchend, von dem Ufer herabtrat, hätte sie fast den Fuß zurückgezogen, denn der Boden war hier so heiß, dass sie die Glut durch ihre Schuhe fühlte. „Ei was, mögen die Schuhe verbrennen!“, dachte sie und schritt rüstig mit ihrem Kruge weiter. Plötzlich aber blieb sie stehen; der Ausdruck des tiefsten Entsetzens trat in ihre Augen. Denn neben ihr zerriss die trockene Schlammdecke, und eine große braunrote Faust mit krummen Fingern fuhr daraus hervor und griff nach ihr.

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„Mut!“, hörte sie die Stimme der Trude hinter sich vom Ufer her. Da erst stieß sie einen lauten Schrei aus, und der Spuk verschwand. „Schließe die Augen!“, hörte sie wiederum die Trude rufen. – Da ging sie mit geschlossenen Augen weiter; als sie aber das Wasser ihren Fuß berühren fühlte, bückte sie sich und füllte ihre Krug. Dann stieg sie leicht und ungefährdet am andern Ufer wieder hinauf.

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Bald hatte sie das Schloss erreicht und trat mit klopfendem Herzen durch eines der großen offenen Tore. Drinnen aber blieb sie staunend an dem Eingange stehen. Das ganze Innere schien nur ein einziger unermesslicher Raum zu sein. Mächtige Säulen von Tropfstein trugen in beinahe unabsehbarer Höhe eine seltsame Decke; fast meinte Maren, es seinen nichts als graue riesenhafte Spinngewebe, die überall in Bauschen und Spitzen zwischen den Knäufen der Säulen herabhingen. Noch immer stand sie wie verloren an derselben Stelle und blickte bald vor sich hin, bald nach einer und der andern Seite, aber diese ungeheuren Räume schienen außer nach der Front zu, durch welche Maren eingetreten war, ganz ohne Grenzen zu sein; Säule hinter Säule erhob sich, und wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nirgends ein Ende absehen.

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"Ein guter Mensch ist, wer sein Kinderherz nie verliert."
(Chinesische Weisheit)




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Die Regentrude (Theodor Storm)

Beitrag von Fredeswind » Samstag 20. Februar 2021, 09:54

Da blieb ihr Auge an einer Vertiefung des Bodens haften. Und siehe! Dort, unweit von ihr, war der Brunnen; auch den goldenen Schlüssel sah sie auf der Falltür liegen. Während sie darauf zuging, bemerkte sie, dass der Fußboden nicht etwa, wie sie es in ihrer Dorfkirche gesehen, mit Steinplatten, sondern überall mit vertrockneten Schilf- und Wiesenpflanzen bedeckt war. Aber es nahm sie jetzt schon nichts mehr wunder.

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Nun stand sie am Brunnen und wollte eben den Schlüssel ergreifen; da zog sie rasch die Hand zurück. Denn deutlich hatte sie es erkannt, der Schlüssel, der ihr in dem grellen Licht eines von außen hereinfallenden Sonnenstrahl entgegenleuchtete, war von Glut und nicht von Gold rot. Ohne Zaudern goss sie ihren Krug darüber aus, dass das Zischen des verdampfenden Wassers in den weiten Räumen widerhallte.

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Dann schloss sie rasch den Brunnen auf. Ein frischer Duft stieg aus der Tiefe, als sie die Falltür zurückgeschlagen hatte, und erfüllte bald alles mit einem feinen feuchten Staube, der wie ein zartes Gewölk zwischen den Säulen emporstieg. Sinnend und in der frischen Kühle aufatmend, ging Maren umher. Da begann zu ihren Füßen ein neues Wunder.

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