29. September 2013: Das Grab der Kitty Jay
Nosferatus Schauspielerensemble dankt Keira Knightley für ihren Cameoauftritt.
Dartmoor ist eine von Englands unheimlichsten Gegenden: Berühmt ist diese Moorheidelandschaft im Südwesten des Vereinigten Königreichs vor allem durch den Roman „Der Hund der Baskervilles“ von Sir Arthur Conan Doyle.
Aber auch so hat Dartmoor einiges zu bieten: Immer wieder verirren sich Touristen im Nebel der Moore, der innerhalb weniger Minuten jede Sicht raubt. Man sagt, das Moor verschlinge Menschen, Schafe und die wild lebenden Ponys mit Haut und Haaren.
Die Schrillen 4 ½ hatte es nach Withywindle, einer kleinen Ortschaft im Herzen Dartmoors verschlagen. Das Örtchen lag am Rande des großen Midgewater Mire am Fuß des Neekerbreeker Tor und der Barrow-downs. Im „Old Man Willow“, dem einzigen Inn des Ortes, hatte Urania sie alle für die Dauer der zweiten Etappe untergebracht. Hatten sie nichts zu tun, dann wurde den 4 ½ nicht langweilig: So vergnügte sich der Golem – so lange er es noch konnte – mit Genève und Saltire mit Urania. Der alte Knochensack schien einen denkbar guten
bone job abzuliefern. Zudem war Urania in den letzten Monaten sehr vernachlässigt worden. Nur unser Nosi blieb auf der Strecke. Er fühle sich meist wie das fünfte Rad am Wagen und so machte er das, war er als Geist am besten konnte: Er ging aus sich hinaus – wann immer ihm alles zu viel wurde. Dabei verließ er zeitweise seinen Wirtskörper und sein reger Geist ging auf Wanderschaft. Er ließ einfach mal seine Seele baumeln ...
Etwas außerhalb von Withywindle liegt an einer Weggabelung ein einzelnes Grab. Das ist die letzte Ruhestätte einer gewaltsam zu Tode gekommenen, jungen Frau mit dem Namen Kitty Jay. Seit ihrem Tod spukt ihr Geist ruhelos durch den Midgewater Mire. Seltsamerweise liegt seit Kurzem jede Früh frischer Ginster auf dem Grab und niemand weiß in Withywindle, wer ihn dort hinlegt ...
Das kam so: Bei einer seiner Aus-sich-Hinausgehen-Tour gelangte Nosi unter anderem auch in den Midgewater Mire. Er wandte sich bald hierhin, bald dorthin und schließlich – bei der Verfolgung eines Totenkopfschwärmers, wie er noch keinen gesehen hatte – dachte er gar nicht mehr daran, wo er sich eigentlich befand ...
„Was machst du denn noch hier? Solltest du nicht schon längst bei deinen Artgenossen im Süden sein?“, sprach er zu dem Schwärmer.
Der Schwärmer zeigte sich – wie erwartet – nur wenig beeindruckt von Nosis Worten und schien stattdessen weiter mit ihm spielen zu wollen: Auf dem Ginster schaukelnd, erwartete der Totenkopfschwärmer seinen Verfolger, ließ ihn ganz dicht herankommen, um sich im nächsten Augenblick in die Luft zu erheben und einen neuen Ruheplatz zu suchen.
„So bleib doch!“ rief Nosi. „Ich will dir nichts tun. Ich will dich ja nur betrachten!“
Es half nichts. Und schließlich war der Schwärmer plötzlich verschwunden, und zugleich kam Nosi zum Bewusstsein, dass der Mond aufgegangen war. Wie aus einem Traum fuhr er empor. Nirgends ein Baum oder ein Haus, nur Irrlichter – es mussten Irrlichter sein – bewegten sich flackernd über den Midgewater Mire.
„Ich habe mich verirrt!“, dachte er sich. „Oh, ich Tor! Das hab ich notwendig gehabt!“
„Vielleicht“, sagte eine spöttische Stimme neben ihm. Er fuhr herum und sah vor sich im Mondlicht ein wunderschönes Mädchen mit langem Haar in einem fremdartigen Kleid.
„Ich will meine Laterne anzünden und dir heimleuchten“, sagte es und ohne dass sie auch nur einen Finger gerührt hätte, flammte ihre Laterne auf.
„Bei Licht bist du ja noch viel schöner“, sprach Nosi zu ihr.
„Das sagen sie alle. Spar dir die schönen Reden und komm!“, sprach es und er folgte dem schönen Mädchen mit der gleichen traumwandlerischen Sicherheit, mit der er vorhin dem Schwärmer gefolgt war.
Nach einer Weile fragte das Mädchen: „Wollen wir ein wenig ausruhen?“
Er nickte und im nächsten Augenblick war ein großer Stein da, wie gemacht für sie beide. Sie nahmen darauf Platz.
„Das ist so schön!“, schwärmte Nosi ganz in Gedanken.
„Was?“, fragte das Mädchen.
„Na, alles“, sagte er. „Der dunkle Midgewater Mire, die Nebel im Mondlicht - und du. Ach, könnte dieser Augenblick doch ewig dauern!“
„Hast du denn keine Angst?“, wunderte es sich.
Nosi schüttelte den Kopf.
„Angst? Ich?“, erwiderte er. „Hier ist doch niemand, der mir übel will.“
Das Mädchen sah ihn an.
„Weißt du das so sicher?“, wollte es wissen.
„Aber, Mädchen!“, musste Nosi lächeln. „Hier sind doch nur wir beide. Und du bist gut, das spür' ich.“
„Aber an diesem Ort ist die Angst“, entgegnete sie. „Vor langer Zeit ist hier ein Mädchen versunken. Die Bewohner von Withywindle haben sie in den Midgewater Mire gejagt, weil sie behaupteten, sie lasse die Kühe krank und ihre Milch sauer werden. Sie hat große Angst gehabt. Und denk einmal - so lange ist sie schon da unten, ganz allein.“
„Armes Ding!“, sagte Nosi voll Teilnahme und blickte zu Boden, als wollte er durch das Dunkel hindurch nach dem armen Opfer suchen.
„Das hat noch keiner gesagt“, flüsterte das Mädchen ganz atemlos, und Nosi spürte, dass eine tiefe Erregung sie befallen hatte.
Er stutzte.
„Was sagen denn die anderen?“, fragte er das Mädchen.
Es schauderte.
„Die ist längst vermodert!“, gab sie zurück. „Aber wir sind lebendig. Was geht sie uns an! Und dann verlieren die herzlosen Narren den Boden unter den Füßen.“
So viel Verzweiflung lag in ihrer Stimme, dass Nosi plötzlich begriff.
„Du bist es ... Kitty Jay!“, stellte er fest.
Sie nickte.
„Ja, ich bin es, das Moormädchen“, gab sie zurück.
„Das Moormädchen!“, wiederholte er und seufzte. Eine plötzliche Todessehnsucht hatte ihn befallen. Das musste an ihre Nähe liegen.
„So allein da unten“, bekräftigte er und sie nickte erneut.
„Wenn ich nur mit dir gehen könnte ...“, überlegte er laut.
„Das möchtest du?“, fragte sie atemlos. „Du wärst wirklich bereit, mit mir ins Dunkel zu gehen? Nur damit ich nicht mehr allein bin? Weißt du, was du da sagst? Nie wieder die Sonne sehen ...“
Nosi hatte genug gehört.
„Einen Augenblick!“, unterbrach er sie. „Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Ich bin auch nur ein Geist ...“
Das Moormädchen stutzte und musterte ihr Gegenüber etwas genauer.
„Du bist ein
high spirit – ein Hochgeist*)“, stellte sie fest. „Stimmt’s?“
Nosi bejahte und das Moormädchen schwieg.
„Lassen wir einfach mal alles Althergebrachte beiseite!“, schlug Nosi deshalb vor. „Ich werde dir helfen. Warum soll nicht mal ein Geist einem Geist helfen? Oder steht etwas Gegenteiliges irgendwo geschrieben?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Na, also! Siehst du!“, versuchte Nosi das Moormädchen zu überzeugen.
„Wer bist du?“, fragte das Mädchen ihn dann.
„Ich bin Nosferatu“, antwortete der Gefragte.
„Etwa DER Nosferatu!“, erwiderte das Moormädchen überrascht. „Wenn ich das gewusst hätte ...“
„Alles ist gut!“, meinte Nosi, doch das Mädchen blieb weiterhin abwartend.
„
What do you say to a wee bit of skelping?“, fragte Nosi sie daher.
Das Moormädchen schüttelte abermals den Kopf und Nosi zuckte enttäuscht mit den Schultern.
„
Wanna bone?“, überraschte ihn nun das Mädchen stattdessen.
„
Sure, why not!“, gab er zurück und plötzlich war er ganz der alte, als den wir ihn kennen. Die beiden hatten großen Spaß miteinander und sie sorgten dafür, dass die ganze Moorheide wackelte. Als sie endlich voneinander abließen, streckte Nosi ganz nach alter Etikette die Hand nach ihr aus und bat sie: „Führ mich!“
Das waren genau die Worte, auf die das Mädchen jahrhundertelang gewartet hatte. Und mit einem Mal war so, als würde das ganze Moor zu singen beginnen: „Erlöst! Erlöst!“
In dem Moormädchen selbst ging nun ein Wandel vor: Sie machte sich bereit für ihre letzte, große Reise ...
Nun war es Nosi, der traurig wurde.
„Ich kann leider nicht mit dir kommen“, sprach er zu dem Mädchen, als sie sich verabschiedeten. „Meine Zeit ist noch nicht abgelaufen ...“
„Das weiß ich doch“, erwiderte das Moormädchen. „Du musst noch warten, aber eines Tages werde ich wiederkommen und dich mit mir nehmen in den großen Garten deines Gevatters. Versprochen!“
Da wurde es dunkel um ihn, und Nosi wusste nicht, ob er schwebte oder schon stürzte ...
Als er erwachte, schwor sich Nosi, bis zum Ende seiner Tage jede Früh frischen Ginster auf das Grab von Kitty Jay zu legen.
*) High spirits sind Geister, die vor ihrem Geistsein nicht menschlich waren.
P. S. Die nicht mehr ganz so kurze Geschichte ist voll von Zitaten und Anspielungen. Nicht nur Tolkien-Anhänger kommen sicherlich auf ihre Kosten ... Das Kernstück bildete die Sage „Das Moormädchen“ aus dem Buch GESPENSTERSAGEN von Kurt Benesch (Verlag Kremayr & Scherlau, Wien 1976).
OST:
Wishbone Ash - Lady Jay.