Es dauert Stunden, bis Der dem Wind folgt aufwachte. Sein Vater hatte ihm gesagt, er solle nie das Feuerwasser der Weißen anrühren. In ihm wären böse Geister, die nur Unheil über die Indianer bringen würden.
Aber er hatte doch nie auf seinen Vater gehört. Seine Mutter, die bei seiner Geburt starb, hatte er nie kennengelernt. Sie war eine Weiße gewesen. Vielleicht kam daher seine Neugierde nach der Welt außerhalb der Jagdgründe seines Stammes. Lange war er unterwegs gewesen. Den Bruder seiner Mutter hatte er finden wollen, den er das letzte Mal als kleiner Junge gesehen hatte. Bis an die Ostküste war er gelaufen, wo er sich als Seemann verdingte.
Mehrere Jahre war er auf einem Schiff gewesen und hatte Länder gesehen, von denen keiner der Sioux je geträumt hatte. Bis ihn eine innere Stimme heim rief und er schweren Herzens dem Meer den Rücken kehrte. Als er im Zelt seines Vaters eintrat, sagte dieser nichts. Drei Tage schwieg er ihn an. Dann gab er ihm die Kiste und sagte ihm, dass er sie mit sich nehmen sollte, da er gelernt hatte in der fremden Welt zu überleben. Bei ihm wäre sie sicherer. Und damit würde er sich als würdig erweisen, einmal in den ewigen Jagdgründen an der Seite seiner Vorväter zu reiten.
Und nun begriff er mit dem Aufwachen langsam, dass er die ihm anvertraute Aufgabe bei einem Kartenspiel verloren hatte.
„Haben Sie gut geschlafen?“ beginnt Lucie das Gespräch, als sie das Aufwachen ihrer Begleitung bemerkt. Nicht ohne, dass ihr auffiel, dass das gestrige Gespräch mit Danteslav genauso begann.
„Die Kiste?“ fragt er entsetzt, als er sich umsieht.
„Die ist sicher oben auf der Kutsche.“ Beruhigt Lucie den Mann mit den bunten Tattoos. „Machen Sie sich keine Sorgen. Ihre Kiste ist nicht die einzige, auf die ich Acht geben muss. Wenn das so weitergeht, werde ich ein Speditionsunternehmen aufmachen.“ Lucie lacht aber Der dem Wind folgt ist immer noch nicht zum Lachen. Sein Kopf schmerzt und noch schlimmer schmerzt ihn das Schuldgefühl und die Tatsache nun wieder in einem Arbeitsvertrag für unbestimmte Zeit gefangen zu sein. Andererseits besaß er gerade keinen einzigen Dollar und wusste nicht, wo er jetzt hingehen sollte. Alles hatte seine Gründe und die Geister seiner Ahnen wussten wohl, warum sie ihn auf diesen Weg schickten.
Lucie Carpek ist glücklich. Die Sonne scheint und vor ihr liegt eine interessante Reise, ein spannendes Abenteuer. Natürlich weiß sie nichts von dem Vampir und den Knochen seiner dienstbaren Geister in der einen Kiste und dem mystischen Geheimnis des Indianers in der anderen. Aber auch das hätte ihr kaum die Laune verderben können. Schon da sie um den Roboter in ihrer Kiste wusste.
Alles andere hatte sie verkauft, aber von H.E.I.N.Z hätte sie sich nicht trennen können. Er war die letzte Erfindung von Josef gewesen und manchmal glaubte sie etwas von ihrem verstorbenen Mann in dem Roboter wiederzufinden. Als wäre der Geist ihres Mannes nach seinem Tot ein Teil des Roboters geworden. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Momentan lag er ausgeschaltet oben auf dem Dach der Kutsche.
„Wohin fahren Sie?“ fragt Der dem Wind folgt. Lucie freut sich, dass der Indianer nun doch auftaut.
„Nun, erst einmal nach San Francisco. Und dann würde ich gern ein Schiff nehmen. Wohin weiß ich noch nicht. Aber ich liebe das Meer seit meiner Fahrt über den Atlantik. Es war das erste Mal, dass ich auf dem Meer war und ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich so alt werden konnte, ohne je das Meer gesehen zu haben.“ Plaudert Lucie Carpek fröhlich drauf los. Der Indianer hört ihr gespannt zu.
„Oh, ich liebe Schiffe.“ Beginnt nun er zu erzählen. „Als ich das erste Mal das Meer sah, hörte ich die Geister im Wind singen. Es war so anders als die Prärie und doch dieselbe Weite, die leichten Wellen, wie das Gras.
Und die Fische in großen Herden wie die Büffel. Vor allem die großen. Ich war ein Jäger. Wie mein Volk schon immer den Büffel jagte, habe ich den Büffel des Meeres gejagt - den Wal. Drei Jahre war ich auf einem Walfänger. Und heute fehlt mir das Meer.“
Lucie hört ihm gespannt zu und ihre Augen leuchten. Sie hatte die Wale unterwegs gesehen, aber sie wäre nie auf die Idee gekommen, diese majestätischen Kreaturen zu töten. Trotz allem spürt sie die Begeisterung ihres jungen Begleiters und wie sehr sie davon angesteckt wird. Auch liegt es in ihrer Natur, praktisch zu denken. Ein Mann mit nautischen Erfahrungen kommt ihr gerade gelegen. Sie schloss die Augen und dachte an die Überfahrt von England nach New York. Sie hatte die Zeit damit verbracht Jules Vernes „Die Abenteuer des Kapitän Hatteras“ zu lesen. Und wenn sie von ihrem Buch aufsah, blickte sie auf die Wellen und wünschte sich, das Schiff würde nie anlegen.
Aber das Schiff hatte angelegt und seit dem war sie nun schon einen Monat mit der Postkutsche unterwegs. Das Buch in ihrem Handgepäck war „In 80 Tagen um die Welt“, nachdem „Die Kinder des Kapitän Grand“ und „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ schon wieder in ihrer Kiste gelandet waren. Wenn sie las vergaß sie die Welt um sich herum, sie vergaß die Vergangenheit, sie vergaß Prag und manchmal sogar Josef. Nur um das Ende des jetzigen Buches schien es schlecht zu stehen, da sie gerade viel mehr Interesse an dem Augenblick hatte, in dem sie gerade lebte.
„Die Kiste? Habt Ihr je hineingesehen?“ platzte es förmlich aus ihr heraus.
„Nein, niemals!“ wehrte Der dem Wind folgt ab. „Das würde Unglück bringen.
„Aber irgendwer wird schon einmal hineingesehen haben. Ich meine, Holzkisten halten keine Jahrhunderte. Was immer darin ist, jemand muss es von einer Kiste in eine neuere getan haben.“ Kombiniert Lucie Carpek.
„Der Medizinmann des Stammes nehme ich an. Aber dann kamen die Weißen, um unsere Büffel zu jagen und unser Land zu stehlen. Verzeihen Sie. Nicht alle Weißen sind wie sie.“
„Aber das hatte doch nichts mit der Kiste zu tun!“ Lucie lacht. „Columbus hätte Amerika auch entdeckt, ohne dass ihr 300 Jahre später eine Kiste öffnet. Denn genau damit fing alles an.“
„Woher wisst ihr, dass damals nicht schon mal die Kiste geöffnet wurde? Ich bin mir sicher, es bringt Unglück!“ beharrt der Halbindianer.