Wieder bogen sie an einer der Gabelungen links ab. Dort war Licht! Nicht sehr hell und noch weit entfernt – auch mochte es von Fackeln stammen – und doch war es Licht! Seine Schritte beschleunigten sich. So sehr er das Leuchten Nafeis lieben gelernt hatte, so sehr vermisste er doch das Sonnenfeuer. Fast schon rannte er die letzten Meter. Dann blieb er stehen, überwältigt vom Anblick welche sich ihm darbot.
Der Gang mündete in einer riesigen Halle. Sie mochte gut dreimal so groß sein wie sein heimatliches Schloss. Ausgeleuchtet von Tausenden von Fackeln, die in drei übereinander platzierten eisernen Ringen an den Wänden befestigt waren. In der Mitte der Höhle brannte Feuer in einer riesigen Schale. Aus dem Felsen waren in meisterhaftem Geschick Tische und Tafeln, Bänke und Stühle herausgearbeitet worden. Assin fragte sich, ob es nur an der Größe der Halle lag, dass ihm die Tische so klein vorkamen. Er erinnerte sich an die die Geschichten, die er über die Zwerge gelesen hatte. Es hieß, sie seien nicht größer als zehnjährige Kinder. Doch wurde stets davor gewarnt, sie zu unterschätzen. Seien sie doch geschickte Kämpfer mit der Axt. Er sah sich um. So überwältigend der Anblick der Halle auch sein mochte, nirgendwo fand sich auch nur eine Spur des sagenumwobenen Reichtums der Zwerge.
Stimmen hallten irgendwo in den Gängen. Sie schienen näher zu kommen. Aber aus welcher Richtung? Assin war verwirrt. Auch wusste er nicht, wie er den Zwergen begegnen sollte. Er wusste nicht einmal mit Menschen umzugehen. Und nun würde er auf Wesen treffen, die freiwillig in der Dunkelheit lebten.
Er sah zu Nafei, welche sich an den Eingang gesetzt hatte.
„Was nun?“
„Wir werden warten.“
„Warten?“ Ein Wort, das Assin am liebsten aus seinem Wortschatz verbannt hätte. Er war der König! Man wartete auf ihn! Und er? Warum sollte er auf irgendetwas warten – und dies gerade jetzt, da der Spiegel für ihn greifbar nah erschien? Jetzt sollte er warten!
„Du versprachst, mich zum Spiegel zu bringen. Wie Du siehst, die Zwerge sind nicht hier. Es ist Zeit!“
„Wir werden warten.“ Sie schloss die Arme um die angezogenen Knie und schaute hinauf zum steinernen Firmament der Halle. Assin war verzweifelt. Er fühlte sich in seiner Ehre gekränkt. Und trotzdem faszinierte ihn der Gedanke, dass ihm zum ersten Mal in seinem Leben ein Wesen widersprach. Auch das er auf jemanden angewiesen war, war durchaus neu für Assin. Nun, ein König ist immer mehr oder weniger auf sein Volk angewiesen, doch er wusste, dass er ohne Nafei den Spiegel in diesem Labyrinth nie finden würde. Als ob er je hätte nicht ohne jemand anderes regieren können – oder essen. Nun gut, dazu brauchte man zumindest den Koch, der es zubereitete…und die Bauern, die anpflanzten und ernteten. Aber nie musste er auf irgendjemanden warten.
Stumm setzte er sich neben sie.
Essen! Er spürte tatsächlich Hunger in sich. Und er dachte nicht an den Spiegel.
Aus einem anderen Winkel der Halle gellte ein Schrei. Metallgeschirr fiel schellend zu Boden und einige Stimmen begannen heftig aufeinander einzureden. Assin sah neugierig in die Richtung, aus welcher die Stimmen kamen. Vier Frauen standen am Eingang. Eine von ihnen kniete am Boden und sammelte das Geschirr wieder auf.
„Es wird Ärger geben.“ Erwähnte Nafei wie beiläufig während auch sie das Schauspiel betrachtete.
„Ärger? Warum?“
„Es sind eben Zwerge.“
„Wir werden sehen!“ Es wäre doch gelacht, wenn ich nicht mit ein paar Zwergen fertig werde – wollte er noch sagen. Aber er ließ es.
Mit großen Schritten bewegte er sich durch den Raum. Im Widerhall seiner Stiefel verstummten die Frauen.
„Kann ich ihnen zu Diensten sein, holde Damen?“ wobei er vor allem auf die jüngste Zwergin sah, welche noch immer am Boden kniete.
„Es tut mir leid. Ich wollte Euch nicht erschrecken.“
Das Mädchen begann zu lächeln. Auch wenn Assins hoch gewachsene hagere Gestallt nicht ganz ihrer Vorstellung von einem Mann entsprach, so fühlte sie sich doch von seinen Worten geschmeichelt. Selbst wenn es ihr doch absurd erschien, das er sie erschreckt haben sollte.
Eine der anderen Frauen trat vor sie, die seine Worte nicht hatten betören können. Die Zwergin stemmte ihre Hände in die Seiten und richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf. Und trotz der Tatsache, dass sie ihm nicht weiter als bis zum Bauch ging, sah sie auf seltsame Weise auf ihn herab.
„Tiefra, geh!“
Den Kopf gesenkt ging die junge Zwergin von einer anderen gefolgt zurück in den Gang, aus dem sie gekommen waren.
„Was wollt ihr hier?“ Ihr Blick verfinsterte sich.
„Wir sind Reisenden, die in diesen Gewölben Schutz suchen.“
„Schutz?“
„Räuber haben uns überfallen.“
„Euch vielleicht, doch scheint mir, das Wesen in Eurer Begleitung bedarf keines Schutzes.“
Assin blickte sich um. Nafei saß immer noch am Eingang.
„Wohl habt Ihr Recht, weise Zwergin. Jene Maid rettete mich im letzten Augenblick aus ihren Fängen und vor dem Angesicht des Todes. Das Schicksal führte uns durch die Pfade des Labyrinths zu Euch. Es lag allein in den gütigen Händen der Göttin, das sie und zu jenem Volk führte, dessen Mut und Größe weit über die Berge Akrons hinaus, gepriesen wird.“ Assin machte eine tiefe Verbeugung – so tief, dass er direkt in Bagriedas Augen schaute, die ihn immer noch finster ansah!
„Was bist Du, Fremder? Einer von diesen Schauspielern, die es unter den Menschen zu Hauf zu geben scheint?“
Assin richtete sich wieder auf, räusperte sich kurz und begann sich mit hoch herrschaftlichem Ton vorzustellen.
„Ich bin Assin, König von Garmis und ich möchte den König Eures Volkes sprechen.“
Bagriedas Blick beugte sich ihrem Unverständnis.
„Den König der Zwerge? Ihr seid doch auch nicht der König der Menschen. Außerdem gibt es keinen König der Zwerge!“
Assin verzweifelte zusehends. Wieder warf er einen Blick hinüber zu Nafei.
„Dann bringt mich halt zu Eurem Anführer!“