Liebes Tagebuch!
Die Stimmung auf der Plattform ist alles andere als gut.
»Wenn sie dich gehen lassen«, meint der Hasenpapa, »dann
solltest du diese Chance nutzen.«
»Und was wird aus euch?«
»Hasen sind nun einmal im Fressplan der Wölfe verankert«,
antwortet er lakonisch.
»Mag sein, aber keine Vorratshaltung!«
»Die Wölfe sind aber klug, wenn sie jetzt schon an Notzeiten denken«,
findet Rolo. »Denn die kommen garantiert, wenn sie uns hier festhalten.«
»Was meinst du?«, will ich wissen.
»Du weißt doch, dass wir Osterhasen sind«, erklärt der kleine Hase. »Ohne
uns gibt es kein Ostern. Es wird keinen Frühling geben, zumal die Frühlings-
elfen ja auch verschwunden sind. Da haben die Wölfe bald kein Futter mehr.«
»Was ist mit den Elfen?«, hake ich nach.
»Das weiß keiner«, antwortet eine Hasenfrau. »Sie müssten längst überall
rumschwirren. Aber nicht eine ist aufgetaucht.«
»Die Wölfe ...«
»Nein, nein«, wehrt sie ab, »die haben damit bestimmt nichts zu tun. Aber
irgendwer hat sie vermutlich gefangen. Das wird ein schlimmes Jahr.«
Keine Osterhasen? Keine Frühlingselfen? Das geht gar nicht!
Ich werde das auch nicht zulassen. Also beschließe ich, das Angebot des
Werwolfs anzunehmen. Ich kann ja dann die Freunde rufen. Gemeinsam
werden wir zumindest die Hasen befreien können. Hoffe ich jedenfalls.
Dumm nur, dass der schwarze Wolf momentan nicht da ist. Also muss ich warten.
Als der Werwolf endlich auftaucht, klettere ich nach unten.
»Du warst wohl auf der Jagd«, vermute ich mit Blick auf das Blut an seinem Körper.
»Ja, war ich«, gibt er zu. »Es war großartig. Für einen Wolf gibt es nichts Besseres.«
»Du bist ganz schön egoistisch«, stelle ich fest, als ein Grauwolf an den
Blutflecken schnüffelt. »Du gehst jagen und deine Kameraden degradierst
du zu Viehwächtern. Du weisst, wohin das führt?«
»Was meinst du?«
»Na, dass aus stolzen Wölfen schwache Viehzüchter werden«, entgegne ich,
nicht ganz ohne Hintergedanken. »Ihr müsst sesshaft sein, vielleicht braucht
ihr Zäune. Auf alle Fälle müsst ihr Wächter ausbilden. Ihr gebt euer ungebundenes,
freies Leben auf für ein bisschen Sicherheit - wie wir Menschen es zu unserer
Schande vor Jahrhunderten schon getan haben. Jetzt haben wir Vorräte, ver-
bringen dafür aber den Großteil unseres Lebens völlig widernatürlich bei
krank machender, ungeliebter Arbeit. Willst du das für euch haben?«
»Wir sind keine Menschen«, fährt er mich wütend an.
Dann lässt er mich stehen und geht zu seinem Rudel. Der Werwolf hält
eine flammende Rede. Ich verstehe kein Wort der Wolfssprache, aber
ich spüre, dass er ihnen meine Argumente erklärt. Sie haben die Wahl
zwischen einer seltsamen Sicherheit und dem wilden, freien Leben
eines umherziehenden Rudels.
Das Rudel knurrt. Es wird aufgeregt. Er stellt sich mitten unter sie. Ein
Wolf beißt dem anderen etwas grob in die Flanke. Sie raufen, bis der
Werwolf als ihr Rudelführer sie zur Ordnung ruft. Dann wirft er mir einen
langen Blick zu. Die Wölfe schauen hinauf zu den Hasen.